Objektivität

Wenn ich mir Objektivität vorzustellen versuche, dann hat dies doch immer subjektiven Charakter. Nicht nur ist jeder Objektivierungsversuch meine ganz spezifische subjektive Art der Vorstellung von Objektivität, sondern vor allem die Entscheidung, von mir selbst und meinem Standpunkt absehen zu wollen, ist eine höchst subjektive. Warum sollte ich das tun? Aus moralischen Gründen? Um Gott zu spielen? Um mir selbst oder andern etwas vorzumachen? Wir alle sind voll von Ideen und Meinungen, die wir für selbstverständlich halten, die jedoch tatsächlich kulturell gewachsen sind und aus der Perspektive einer denkbaren anderen Kultur als banal oder absurd betrachtet werden können. Dazu gehört auch die Idee der Objektivität, an die ich nicht glaube.

Diskussion

Flott gesagt

»Das Unglaubliche ist der einzige Maßstab, an den zu glauben immer richtig ist.« Einer von vielen flotten Sätzen aus Sloterdijks Notizbuch. Aber: immer »richtig«, was ist schon richtig? – und gar immer: Was ist schon »immer« richtig? Nun gut, vielleicht gibt es einiges wenige, was immer richtig scheint, zum Beispiel als Mensch ohne Schnorchel oder Flaschen unter Wasser nicht zu atmen, aber schon ein suizidal Gestimmter könnte ganz anders denken.

Nun zum Unglaublichen. Wenn das »Unglaubliche« etwa so stabil wäre wie das Wetter auf den Azoren oder in Irland, dann könnte man froh sein. Tatsächlich jedoch ist das Unglaubliche ein Abstraktum, unter dem sich jeder etwas anderes vorstellt, wenn er sich denn etwas darunter vorstellen kann. Weit entfernt davon, ein Maßstab zu sein, wie etwa das Urmeter aus Platin in Sèvres bei Paris, ist das Unglaubliche bedeutungsmäßig unbestimmt. Weder Stab noch Maß.

Es hat den Anschein, als bewerbe sich Sloterdijk mit solchen Sätzen als Maßstab für Windbeutelei.

Getrieben statt gedacht

Das Zentrale der Existenz ist weder das Subjekt noch dessen gehirnliche Wahrnehmung, zentral ist die Kraft, die beides hervorbringt und mit einem Vorstellungsapparat ausstattet, den diese Kraft sich zunutze macht, um sich selbst abzubilden und damit aus dem scheinbaren Nichts ihres Seins herauszuholen. Wir neigen dazu, das Akzidentielle mit dem Essenziellen zu verwechseln; deshalb ist alles Forschen am Gehirn und an dessen Konstruktionen Fokussieren des Nebensächlichen.

Jeder oder keiner

Wie merkwürdig, selbst bei einem so gebildeten Mann wie Goethe solch einen gravierenden Logikfehler zu finden:

Kircher hat bei dem vielen, was er unternommen und geliefert, in der Geschichte der Wissenschaften doch einen sehr zweideutigen Ruf. Es ist hier der Ort nicht, seine Apologie zu übernehmen; aber so viel ist gewiß: die Naturwissenschaft kommt uns durch ihn fröhlicher und heiterer entgegen als bei keinem seiner Vorgänger.

Farbenlehre

Das Gegenteil wäre richtig: Fröhlicher und heiterer als bei jedem …, nicht bei „keinem …“ Oder so fröhlich und heiter wie bei keinem …

Die Botschaft der Dinge und die Desillusionierung

Die Dinge sind nie Boten gewesen, wir haben sie früher nur dafür gehalten oder tun es heute noch. Die Desillusionierung, wenn sie stattfindet, führt dazu, daß alles schleichend der menschlichen Projektion entzogen wird und dann, bei der nächsten eingehenden Prüfung, durchfällt. Projektionsfläche löchrig. Jedes neue Entzünden hat zum Wozu nur die unbewußte Hoffnung, diese Löcher zu stopfen, aber die Frage nach dem Wozu ist nicht zu beantworten, weil schon in der Frage ein Fehler steckt, nämlich der Glaube, alles müßte ein Wozu hergeben. Solche Fragen bedenken nicht, daß Kategorien wie Nutzen, Zweck, Ziel und Sinn anthropomorphe Erfindungen sind und keine universellen Voraussetzungen haben. Kein Gott, der sich etwas wünscht, und keiner, der zu einem Ziel strebt.

Mit Heidegger gesprochen, bedeutet Individuation Transzendenz des Seins des Seienden und damit gewissermaßen Entleerung des Kosmos. Bleibt am Ende jedoch nicht die Wiederauffüllung durch individuelle Sinnstiftung, sondern die Aufhebung des Konzepts Sinn durch die Transzendenz des Individuums, das sich selbst als ebenso konzeptionell begreift wie die von ihm stillschweigend aufgesogene utilitaristische Weltsicht. 

Dank an Alcide für die Anregung.

Pseudo

»… Schlossbesitzer Bemering …, der mit dem Kommissar bei erlesenem Rotwein pseudophilosophische Gespräche über den Wert des Menschen an sich führt …« (Jochen Hieber in der FAZ über den Tatort-Krimi »Das Spukschloss im Hinterhaus«, 2011)

Ein »Gespräch über den Menschen an sich« ist nicht schon deshalb ein pseudophilosophisches Gespräch, weil derjenige, der den Begriff »pseudo« benutzt, nicht daran beteiligt ist. Ein Gespräch über den Menschen an sich ist immer ein philosophisches Gespräch, selbst dann, wenn die Gesprächsbeiträge so banal sind wie manche Kritiken. Das Wort »pseudophilosophisch« soll hier seinen Verwender adeln, der wahrhaft philosophisch zu sprechen sich selbst und einigen wenigen andern vorzubehalten versucht.

»Resilienzfähigkeit«

In der Sendung Philosophie spezial bei WDR 5 ging es um das Thema Utopie. Genauer um die Einhaltung von Regeln und deren Auslegung. Stefan Selke, Soziologe, erzählte von seinem Aufenthalt in einem benediktinischen Kloster und daß es ihn gewundert habe, wie großzügig, »elastisch« man mit den dort geltenden Regeln umgegangen sei. Die Strenge habe sich in Grenzen gehalten. Darauf meinte der Moderator Jürgen Wiebicke sehr treffend, es gehe ums Verzeihen.

Der Begriff sagte Stefan Selke offensichtlich nicht zu, denn er meinte, heute würde man das vielleicht besser »Resilienzfähigkeit« nennen. Darauf folgte ein längerer emphatischer Monolog, den ich nur noch akustisch wahrgenommen habe, weil ich mich über den Begriff »Resilienzfähigkeit« nachzudenken gezwungen sah. Kurz darauf war die Sendung zu Ende.

Nun ist es so, daß in jedem zweiten Statement, das in die Welt posaunt wird, seit etwa zwei, drei Jahren dieses Intellektualität vortäuschen sollende und aus dem Psychologenjargon stammende Modewort »Resilienz« an prominenter, häufig auch unpassender Stelle in den Raum geworfen wird. Als reiche es nicht aus, von Widerstandsfähigkeit oder Widerständigkeit zu sprechen, wenn es darum geht, die Zumutungen des Lebens und anderer Menschen und Systeme an sich abprallen (lat. resilīre) zu lassen.

Es mag normal und verzeihlich (!) sein, wenn Soziologen oder Psychologen von Resilienz sprechen, aber mittlerweile ist der Gebrauch des Wortes so inflationär bis in die unterste Ebene der Kommunalpolitik vorgedrungen, daß Menschen wie Herr Selke aus Distinktionsgründen nun zu unbedachten Begriffserweiterungen wie oben gezwungen zu sein scheinen. Dabei hat er leider nicht bedacht, daß dem Begriff »Resilienz« (psychische Widerstandsfähigkeit) der Begriff »Fähigkeit« inhärent ist, es also nicht möglich ist, der Resilienz einen neuen Untermieter zu verschaffen, denn die Fähigkeit ist bereits Hauptmieter im Haus der Resilienz.

Erschwerend kommt hinzu, das verzeihen etwas gänzlich anderes ist als standhalten. Verzeihen hat etwas mit Toleranz zu tun, mit dem nachträglichen Akzeptieren von etwas, das uns nicht gefallen hat. Resilienz dagegen ist reine Abwehr von und Standhalten gegenüber Nichtverträglichem. Toleranz ist dabei nicht vonnöten.

WDR 5

Pause for Thought: Money without Value in a Rapidly Disintegrating World — The Philosophical Salon

The acceleration of the “emergency paradigm” since 2020 has a simple yet widely disavowed purpose: to conceal socioeconomic collapse. In today’s metaverse, things are the opposite of what they seem. Inaugurating Davos 2022, IMF director Kristalina Georgieva blamed the pandemic and Putin for the “confluence of calamities” that the world economy is now facing. No…

Pause for Thought: Money without Value in a Rapidly Disintegrating World — The Philosophical Salon

Das kleine Maß für große Dinge

Neulich schrieb ich etwas über Anthropomorphismus. Tatsächlich habe ich danach nicht mehr bewußt über den Unterschied zwischen anthropomorph und animistisch nachgedacht. Aber in meinem Kopf ging das ohne mein Zutun wohl weiter, denn heute wachte ich mit dem Gedanken auf, das seien nicht zwei verschiedene Bezeichnungen für etwas Ähnliches, sondern tatsächlich Gegensätze. Ein Nachkomme der autochthonen amerikanischen Bevölkerung hatte in meinem Traum einen Baum umarmt, um so um Entschuldigung zu bitten, weil er ihm sein Leben nehmen müsse, um mit seiner Familie in der Wohnstatt nicht zu erfrieren.

Dem liegt ein animistisches Bild der Natur zugrunde. Mensch und Baum sind gleichermaßen belebte Teile der Natur, und der Mensch nutzt seine Macht über den Baum deshalb nur mit Vorbehalt und nur aus der Not heraus.

Anthropomorph dagegen ist die Vorstellung des Gläubigen, Gott habe ihn nach seinem Bilde erschaffen, weswegen Adam das korrekte Bild Gottes im Umkehrschluß entdeckt, wenn er morgens in den Spiegel blickt.

Anthropomorph ist auch das gutgemeinte Handeln der Hundehalterin, die ihren Liebling bei sinkenden Temperaturen in einen selbstgestrickten Anzug steckt, ob es dem vermenschlichten Tier gefällt oder nicht.

Animistische Vorstellungen schließen Pflanzen mit ein, anthropomorphe nicht. (Mal abgesehen von Disney-Filmen für Kinder.) Animismus ist Einfühlung oder mit Einfühlung verbunden, Anthropomorphismus dagen Aneignung, Vereinnahmung im Sinne des protagoräischen Homo-mensura-Satzes.

Man kann den Gedanken, der Mensch sei das Maß aller Dinge, aber auch als Eingeständnis deuten, das anthropomorphe Brett vor dem Kopf verhindere ein wirkliches Sehen.

„Alles ist ein Hauch nur …“

Angeregt durch »Wesen wie wir«, dachte ich heute morgen auf dem Weg zum Bäcker über Anthropomorphisierung nach, über ein Gedicht von Arno Schmidt und über den Willen in der Natur im Denken Arthur Schopenhauers.

Genaugenommen ist diese animistische Art, Leben in seine Umgebung zu bringen, eine natürliche frühkindliche Phase der kognitiven Entwicklung, wie wir von Piaget wissen. Darüber hinaus Bestandteil mancher Naturreligionen und früher, vorchristlicher Religionen. Animismus, der altgriechische ἄνεμος ánemos, Hauch, später dann römisch-lateinisch anima, Seele, ist zwar vom Menschen gedacht, aber nicht anthropozentrisch, denn die beseelten Wesen nehmen nicht menschliche Form an, sind zwar belebt, aber nicht vermenschlicht.

Dazu paßt, daß ein Wille, der ihnen zugesprochen wird, kein individueller ist, sondern ein allgemeiner Wille der Natur, der sich in ihnen offenbart. Und damit sind wir dann bei Schopenhauers Vorstellung vom Willen in der Natur.

So meine Gedanken am Morgen. Und nun beiße ich in die Rosinenschnecke, die es sich in meinem Magen gemütlich machen will. Ihr ist es egal, ob sie dabei ihre Form verliert, denn die hatte sie sich ohnehin nicht ausgesucht.

Das Anthropomorphe in der Schnecke wie im Stuhl ist ganz präsent, hineingebracht durch die lange Hand des Bäckers und des Tischlers. Das Animistische aber finden wir auf einer tieferen Ebene: zumindest in unserer Vorstellung.

Form und Plastizität

Als Ideal: Jeden Satz schreiben, als müsse er für die Ewigkeit stehen.

Negativer Nebeneffekt solcherart gußeiserner Artikulation ist das statisch Abgekühlte, die Verharschung des Geschriebenen. Hier wird vorgeführt: die Geburt der Dogmatik aus dem Geiste des Idealismus, denn wer möchte schon an der Ewigkeit kratzen, gar an der eigenen. Dem Eitlen ein Greuel. Aber nichts außer der Ewigkeit ist ewig (und auch die nur vielleicht), das sollte klar sein, und wir tun gut daran, unsere kleinen Wörterwürmer nicht zu überschätzen. Sie haben, so kein Feuer ins Spiel kommt, bestenfalls die Halbwertszeit von Plastiktüten.

Bemühen um plastischen Ausdruck sollte dennoch selbstverständlich sein, und gerade das Wissen um die formwiderstrebende Plastizität alles Geschaffenen und damit die Endlichkeit aller Form sollte uns besonders anspornen.

Plastizität ist kein Ergebnis, kein Endprodukt, sondern für mich grundsätzlich die Kraft, die in der Natur wirkend die Evolution antreibt, was wir Menschen durch Mimesis zu ergänzen oder gar zu ersetzen trachten. Dabei sollten wir uns des Prozeßcharakters des Ganzen bewußt sein, was uns davon abhalten kann, unsere Kraft an Denkmälern (und der „Satz für die Ewigkeit“ ist eine Art Denkmal) für was auch immer zu verschwenden. Wenn der Bau von Denkmälern überhandnimmt, beginnt das Leben zu veröden.

In der Natur trägt die zur Form geronnene Plastizität den Keim ihrer Auflösung in sich und die Fähigkeit zur Formwandlung. Das sollten wir nicht durch die Erfindung immer neuer Betonsorten zu konterkarieren trachten.

Warum nicht die Form ebenso bejahen wie ihre Fähigkeit, sich zu wandeln oder aufzulösen? Ich sehe da keinen künstlich erzeugten Widerspruch, allenfalls eine grundlegende Paradoxie allen Seins.

Man kann sich natürlich auch hinlegen und warten, bis es vorbei ist.

metepsilonema

Philosophischer Adel

In Deutschland gilt einer nur dann als Philosoph, wenn er Griechisch rückwärts lesen kann, nicht in der Lage ist, einen Fernseher von einem Radiogerät zu unterscheiden, mindestens zwei Warzen im Gesicht hat und darauf achtet, daß bei keinem seiner Bücher die Fünf-Anmerkungen-pro-Seite-Marke unterschritten wird.

DIE ZEIT

Philosophieren

Recht verstanden, ist Philosophie nicht etwa eine Lehre von den Erscheinungen, den sichtbaren Dingen, auch nicht irgendeine Art, naturwissenschaftliche Erkenntnisse in systematische Prokrustesbetten zu stopfen. Vielmehr ist Philosophie – oder besser das Philosophieren – eine Methode zur Gedankenerhellung, so etwas wie ein Klärwerk für die Massen naturwissenschaftlichen und gesellschaftswissenschaftlichen Faulschlamms, die unsere Gehirne Tag für Tag erzeugen und absondern. Nicht zu vergessen natürlich die alltägliche psychologische Wahnproduktion. Es muß eine Instanz geben, die all die eigenen und fremden Gedanken in uns auf ihre Stichhaltigkeit prüft.

Utopie als Heilserwartung

Wenn die chiliastischen Vorstellungen, die allen religiösen Fata Morganen zugrunde liegen, säkularisiert werden, entsteht als weltliche Variante die politische Utopie. Beide speisen sich aus eschatologischen Auffassungen von der Geschichte als Verwirklichung eines Telos.

Das führt zum Streben nach Tausendjährigen Reichen und ist das Gegenteil von Freiheit. Gesellschaftliche Utopie begreift den einzelnen lediglich als Hülle einer Entelechie und nicht als individuelles Wesen. Das ist der Grund, weshalb politische Utopie, sobald man mit ihrer Verwirklichung beginnt, rasch menschenfeindliche Züge annimmt und manchmal in Barbarei endet. Wenn der Zweck die Mittel heiligt, wird die Heilserwartung zum Unheil.

Weit entfernt davon, den Begriff der Utopie ungebrochen positiv zu sehen, aber durchaus kein Mensch ohne Phantasie, Visionen und Idealvorstellungen, möchte ich darauf hinweisen, daß auch und gerade totalitaristische Weltherrschaftsträume in utopischen Vorstellungen wurzeln, ebenso der Wahn von der technischen Beherrschung der Natur, den man abgeschwächt und modifiziert auch bei Denkern findet, die nicht ohne weiteres dem Totalitarismus zugeordnet werden können. Oder die Betonwüsten vieler Großstädte, sie sind, gewachsen aus dem Samen utopischen Bauhausdenkens, das, was von theoretischen Idealen übrigbleibt, wenn sie zu gesellschaftlicher Praxis werden.

Blickend über die Dächer von Berliner Altbauten, freue ich mich, in einem ebensolchen Gebäude zu wohnen. Es gibt jedoch sehr unterschiedliche Auffassungen über Hygiene und Lichtdurchflutung, wie über Wohnqualität ganz allgemein, und genau da ist der Kern der Verwirklichung utopischer Visionen: Bisher haben alle mir bekannten gesellschaftlichen Utopien bei ihrer Umsetzung die Neigung entwickelt, sich über unterschiedliche Auffassungen, die nicht mit denen der »Erfinder« solcher Modelle übereinstimmten, nonchalant hinwegzusetzen. Auch darüber, was tatsächlich gesellschaftlicher »Fortschritt« ist und was nicht, läßt sich trefflich streiten. Solange das Streiten noch erlaubt ist.

Es liegt mir fern, Visionäre für die mißlungene Umsetzung ihrer Visionen verantwortlich zu machen, ich möchte lediglich zu bedenken geben, ob nicht vernünftigerweise beim Visionieren bedacht werden sollte, wie Menschen seit Menschengedenken sind und daß der »neue Mensch«, den man bei vielen dieser optimistischen Visionen einfach voraussetzt, bei der Umsetzung utopischer Konzepte nicht von selbst aus der Erde wächst.

Utopische Vorstellungen einer gerechten und schönen Welt unterscheiden sich wesentlich, sind Idealvorstellungen unterschiedlicher Individuen, und die Utopie des Spießbürgers ist eine ganz andere als die des Ästheten, und beide wenden sich vielleicht mit Grausen ab, wenn sie mit der gesellschaftlichen Utopie eines Dritten konfrontiert werden, selbst wenn es nicht der utopische Bauernstaat von Pol Pot ist.

Der Mensch braucht Utopien, um sich darüber hinwegzutäuschen, wie er tatsächlich ist, und er braucht Utopien, die stets das Gute wollen, auch wenn sie meist das Böse schaffen, um nicht zuletzt auch seine Bosheit zu rechtfertigen, die der eigentliche Antrieb ist, der ihn in Schwung bringt und der ein Teil von jener Kraft sein soll, »die stets das Böse will und stets das Gute schafft«, wie Goethe noch hoffte.

Hat der Mensch eine Vision, so gießt er anschauliche Abbilder davon, abstrahiert diese zu Buchstaben und formt daraus eine Ideologie, deren es bedarf, um vorzutäuschen, man wolle eine Utopie verwirklichen. In Wirklichkeit strebt man nur nach Macht über die andern. Die Utopie des Esels ist eine Gesellschaft, in der ein andrer seine Lasten trägt: Utop-ia.

Heute, in einem scheinbar nachutopischen Zeitalter, da die utopischen Vorstellungen vom »Absterben des Staates« und »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« geräuschvoll auf der Deponie der Geschichte abgefackelt wurden, sind nur noch die Utopien der Marktes geblieben, die Träume des Kapitals. Aber auch diese utopischen Blütenträume werden mittelfristig immer weniger Menschen die Nächte erhellen und spätestens dann enden, wenn die Lebensgrundlagen in Klump gehauen sind.

Man muß schon mit Hegel an die Vernunft der Geschichte glauben, um die Unvernuft der Geschichte zu übersehen, die man durch den Glauben an die Vernunft der Geschichte erst hervorgebracht und nach Kräften gefördert hat.

Politische Utopien sind der Stoff für Menschheitsbeglücker, die die Menschheit (angeblich) in eine leuchtende, schattenlose Zukunft führen wollen – notfalls mit Gewalt. Ich bin eher bescheiden, gebe mich mit Licht und Schatten der Gegenwart zufrieden und zünde hier und da eine Kerze an.

Ein anzustrebender Zustand wäre einer, an dem keine Veranlassung mehr bestünde, utopische Vorstellungen zu entwickeln. Doch ein solcher Zustand ist – leider – Utopie.

Drei Anmerkungen zu René Weilands philosophischem Essay »Wenn Philosophie vom Denken abhält«

Unter dieser durch ihre Paradoxie ins Auge hüpfenden Überschrift kann man einige Thesen und Behauptungen lesen, die mich nicht nur nicht vom Denken abgehalten haben, sondern vielmehr zum Formulieren von Anmerkungen angeregt.

Weiland schreibt, allerdings ohne vorher zu sagen, was er unter denken versteht, man höre allenthalben, denken habe etwas mit dem Stellen von Fragen zu tun. »Was aber nun, wenn es genau andersherum wäre, wenn denken antworten hieße …?« So fragt er, und das setzt seinen und auch meinen Denkapparat in Bewegung. Das erste, was mir einfällt: Denken hat natürlich ebenso mit fragen zu tun wie mit antworten: ein dialektischer Prozeß, der zu immer neuen Fragen und Antworten führt.

Tatsächlich frage ich mich hier: Was will er uns damit sagen? In diesem Fall, so scheint es, ist die Frage das entscheidende Auslösemoment des Denkens. Gewissermaßen das Ei. Wohin dieses Denken führen wird, ob zur eierlegenden Henne, wissen wir noch nicht, es sei denn, die Frage war nur eine rhetorische, weil der Herr Weiland sich vorher überlegt hat, wohin seine Frage führen soll, und nur so tut, als ob es tatsächlich eine auf Erkenntnis zielende Frage wäre. In diesem Fall ist eine solche Frage tatsächlich eine der »Antworten … die wir in Form von Fragen auszusprechen bloß aufschöben«: Inszenierung einer These?

Sofort denkt man an an die sokratische Hebammenkunst, von der wir nicht wissen, ob sie tatsächlich eine bildhafte Eigenbezeichnung von Sokrates ist oder nur eine schöne Erfindung von Platon.

Und richtig, genau darauf will Weiland hinaus und beschäftigt sich im Folgenden mit der »sokratischen Fragemethode« und spricht dabei von methodischer Verstellung, dem absichtsvollen Sich-dumm-Stellen, dem ironischen Gestus, der verletzend sei und den Ironiker zum einsamen Menschen mache.

Nur übersieht der Kierkegaard-Kenner zweierlei, nämlich, daß er, wie mancher andere, wenn er von sokratischer Ironie spricht, mehr von der retrospektiven Phantasie Kierkegaards redet als vom historischen Sokrates, von dem wir ohnehin nur wenig wissen, außer dem, was Platon uns erzählt. Und zweitens scheint sich Sokrates mit seiner Methode zwar einige Feinde gemacht zu haben, aber durchaus nicht einsam gewesen zu sein,wenn man der Überlieferung Glauben schenkt, die viele Freunde und Schüler bezeugt, die ihm im Gefängnis beistanden und ihn vom Trinken des Schierlingsbechers abzubringen und zur Flucht zu überreden versuchten. Soviel zur Einsamkeit des Ironikers.

Zu Sokrates nur noch eines: Was, wenn, wie ich glaube, Sokrates gar kein Ironiker war, sondern lediglich außerordentlich skeptisch, wenn es ums Wissen ging, und zwar nicht nur das der anderen, sondern vor allem auch das eigene, und sein Ausspruch »Ich weiß, daß ich nicht weiß« kein Spruch war, sondern seine innere Überzeugung? Dann wäre die Mäeutik nichts weiter als eine uneigennützige pädagogische Methode, um andere zum vorsichtigeren Denken anzuregen.

Das zweite, was mir auffiel, ist die Behauptung, »Philosophie, emblematisch eingesetzt, wehrt freies Denken geradezu ab«. Ist es nicht vielmehr so, daß gerade solcherart Philosophie durch ihre monumentalische Erscheinung zum Widerspruch herausfordert, gar zum Lachen reizt und zum Nachdenken darüber, wie sie zu destruieren sei? »Zu glauben, daß, wer denkt, sich notwendigerweise mit den sogenannten großen Fragen beschäftigt …« – es folgt eine Aufzählung von Fragen, die der Autor für große Fragen hält, etwa die nach dem Sinn des Lebens oder die nach Gottes Existenz –, bedeute, die anderen, kleineren, zu überhören. Interessanterweise werden hier keine Beispiele von kleineren Fragen genannt, vielleicht weil auch der Autor sie überhört hat oder weil er sich nicht sicher ist, ob sie nicht eventuell große sind, wer weiß. Ich selbst bin der Meinung, seit dem Vorsokratiker Protagoras und den viel späteren mißglückten Gottesbeweisen in der Geschichte der Philosophie ist die Frage nach der Existenz Gottes keine ernstzunehmende Frage mehr, wenn es überhaupt je eine gewesen sein sollte. Und die Frage nach dem Sinn des Lebens kann erst sinnvoll gestellt werden, wenn der »Sinn« von Sinn, was immer das sein mag, geklärt ist. Ähnlich ist es mit der Frage nach Wahrheit, die tatsächlich die Frage nach der Möglichkeit von Wahrheit ist. »Und was ist Gerechtigkeit?« Die Frage nach der Gerechtigkeit ist keine philosophische Frage, sondern eine gesellschaftliche: eine moralische, soziologische, psychologische, bestenfalls theologische …

Zum Schluß ist dann noch die Rede vom »Aufgabencharakter unseres Seins« und davon, daß wir uns die Zeit schaffen, »unsere Aufgabe zu erfüllen«. Mag sein, daß wir eine Aufgabe zu erfüllen haben – wie der Held in einem idealistischen Entwicklungsroman oder derjenige, der wie Hegel meinte, man müsse mit Hilfe der Philosophie Gott zu begreifen versuchen – oder auch teleologisch indifferent agieren, was wahrscheinlicher ist. Wir wissen es nicht. Ganz wie Sokrates.

Sinn und Form

Zufall und Notwendigkeit

Auch der Zufall hat eine innere Notwendigkeit, ist also immer nur ein relativer, doch in der Notwendigkeit ist kein Platz für den Zufall. Notwendigkeit ist absolut. Notwendigerweise gibt es Zufälle, aber es ist kein Zufall, daß es Notwendigkeit gibt.

Zufall ist ein Ereignis im Schnittpunkt von Kausalketten, ein Ereignis, dessen Notwendigkeit wir erkennen würden, wenn wir alle Kausalketten aus einer Art perspektivloser Vogelperspektive betrachten könnten.

Den Ursprung dieser Kausalketten ausmachen zu wollen überschreitet die Grenzen dessen, was unsere Apperzeption generiert, und damit die Möglichkeiten des menschlichen Denkens. Zufall und Notwendigkeit sind gebunden an die Welt der Erscheinungen, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen und in unserem Bewußtsein zu einem Bild gestalten.

Ein wie auch immer geartetes Absolutes zu erkennen, das bleibt der inneren Wahrnehmung überlassen, ist jedoch sprachlich-logisch nicht darstellbar.

Klare Sprache

Wenn man genug in Mülltonnen nach den Perlen gekramt hat, die so manche Herren Philosophen zu ihrer Belustigung und zur Abgrenzung vom gemeinen Volk hineingeworfen haben, merkt man irgendwann, daß diese Suche nicht nur schmutzige Hände macht, sondern auch Lebenszeit kostet. Deshalb ziehe ich heute die Denker mit der klaren Sprache entschieden vor.

Intellektuelle und Philosophen

Während der Intellektuelle scheinbar verschämt abwinkt, wenn man ihn als Philosophen bezeichnet, und seine Gesichtsfarbe wegen der durchblutungsfördernden Schmeichelei von vornehmer Blässe in einen sanften Rotton wechselt, wird der Philosoph wütend und knallrot, wenn man ihn als Intellektuellen enternstet. Das ist der Unterschied.