Erinnerung

Das Wasser spielte
Jahrmillionen um Jahrmillionen
mit den Ufern
bis es ihm
reichte
also gefror es
wurde still
und verschmolz
mit den Ufern

doch eines Tages war
das Eis es leid
zu frieren
also erwärmte
es sich
und bald
wurde es
zu Wasser

und es spielte
Jahrtausend um Jahrtausend
mit den Ufern
bis es ihm
reichte

als es dem Wasser
langweilig wurde
verdampfte es

oder es
gefror

wer weiß das schon noch
so genau

Meinungsbildungsprozeß

Wenn wir mit uns irritierenden Meinungen eines anderen konfrontiert werden, sollte es nicht in erster Linie darum gehen, ob diese oder unsere Meinung richtig ist oder falsch. Vielmehr ist der Sinn des Meinungsaustauschs, die Irritation durch die abweichende Meinung des anderen fruchtbar werden zu lassen, indem wir diese zum Anlaß nehmen, unsre eigene Meinung auf ihre Stichhaltigkeit hin zu überprüfen, denn jeder hat zu jedem Aspekt des Lebens und zu dessen sprachlicher Repräsentanz ganz persönliche Definitionen parat, die etwas zu tun haben mit den gängigen Vorstellungen davon, was dieses oder jenes sei, und jeder hat seine persönlichen Erfahrungen und philosophischen oder religiösen Strickmuster, nach denen er sich seine Meinung zusammenbastelt.

Sinn des Meinungsaustauschs sollte es sein, die eigene Meinung mit denen der anderen zu vergleichen und alle Meinungen, aber vor allem erst mal die eigene, immer wieder auf ihre Aktualität und Plausibilität zu überprüfen. Dabei ist die Meinung der anderen nichts weiter als eine weitere zu überprüfende Meinung.
Das ist Meinungsaustausch als Denkanstoßgeschehen.

Meinungsaustausch als Wettkampf kann nur in den Bereichen betrieben werden, wo absolute Gewißheit besteht. Und diese Bereiche sind um vieles kleiner, als wir wahrhaben wollen.

Meinungsbildung ist ein Prozeß, der niemals abgeschlossen ist, aber wir sind in aller Regel so fest durch unsere Begrifflichkeiten und Vorannahmen geprägt, daß wir gar nicht bemerken, wie sehr uns die dadurch generierten Meinungen, die wir meinen verteidigen zu müssen, am Nachdenken hindern.

Wenn wir nicht genau wissen, was Sache ist – und niemand weiß das in den meisten Fällen so ganz genau –, wie können wir da bestimmen, was richtig ist und was falsch?

Die eigene Dummheit

Es ist eine Dummheit, zu glauben, ein Dummer könne seine eigene Dummheit erkennen. Seine eigene Dummheit erkennt man immer nur retrospektiv, also zu spät, nämlich dann, wenn man sie bereits überwunden hat. Das weiß ich aus eigener, bitterer Erfahrung. Dummheit kann, wenn überhaupt, nicht durch unmittelbare Erkenntnis, sondern nur durch bittere Erfahrung überwunden werden. Hoffe ich.

Dunkelziffer

In früheren Zeiten neigten die meisten Wissenschaftler dazu, mit statistischen Daten eher behutsam umzugehen und nur dann die Lügenmaschine anzuwerfen, wenn sie mit Gutachten für politische oder wirtschaftliche Interessengruppen beauftragt waren und die Bezahlung sich sehen lassen konnte. Seit eh und je spielte bei ihren Aussagen der Begriff Dunkelziffer eine herausragende Rolle. Je nach Auftraggeber und Fall war die Dunkelziffer »vermutlich sehr hoch« oder auch »wahrscheinlich eher unbedeutend«, jedenfalls in aller Regel nicht präzise anzugeben, was bei einer Dunkelziffer das ist, was jedem unmittelbar einleuchtet.

Dies hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten drastisch geändert – ob infolge der verfeinerten technischen Analyseverfahren oder deshalb, weil Kartenleger, Handleserinnen und andere Hellsichtige verstärkt die Vorteile einer wissenschaftlichen Karriere erkannt haben, das vermag ich nicht zu sagen. Schaut man heute in wissenschaftliche Publikationen, dann kann man feststellen, wie die dunklen Ziffern das Leuchten gelernt haben. Einige Beispiele:

Die Dunkelziffer beträgt 90 Prozent. Handelsblatt
Die Dunkelziffer beträgt 79 Prozent. Hessischer Landtag
Die Dunkelziffer beträgt 80 bis 90 Prozent. Uni Frankfurt am Main
Die Dunkelziffer beträgt bis zu 99 Prozent. Uni Zürich
… muß mit einer Dunkelziffer von 0,1-0,2 % gerechnet werden. Uni Essen

Häufig wird gesagt: »Diese Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen«, auch wenn das gar nicht stimmt und man tatsächlich fast durch ist mit dem Aufzählen, man aber Eindruck schinden möchte. In Fall der Dunkelziffer ließe sich die Aufzählung tatsächlich fast beliebig fortsetzen.

Wie man sieht, ist es den Dunkelziffern mit Hilfe der Wissenschaftler gelungen, mächtig viel Licht in die dunklen Felder der Unwissenheit zu bringen, und wüßte ich nicht aus Erfahrung, daß die Dunkelziffer bei statistischen Lügen nicht exakt zu bestimmen, aber wahrscheinlich sehr hoch ist, würde ich hier dazu auffordern, den Begriff Dunkelziffer künftig nicht mehr oder nur noch zögerlich und in Ausnahmefällen zu verwenden oder durch den neuen Terminus Hellziffer zu ersetzen.

Allerdings müßten sich alle beteiligten Datenerheber und Dateninterpreten (also Hellziffernseher) regelmäßig auf Hellziffernkonferenzen zusammensetzen und sich auf verbindliche Hellziffern einigen, was vermutlich wegen interessenbedingter Zifferndifferenzen nicht möglich sein wird, wie an folgendem Beispiel deutlich wird:

In Deutschland gibt es rund sechs Millionen Diabetiker, die Dunkelziffer beträgt fünf Millionen. Ärztekammer

Wir haben in Deutschland sechs Millionen Diabetiker. Die Dunkelziffer beträgt zwei Millionen. Welt-Diabetestag

Man sieht: Die Dunkelziffer ist bei genauerer Betrachtung nach wie vor keine sonderlich erhellende Angelegenheit.

Gefühl und Verstand

Was auch immer wir über unsere Gefühle sagen, wie wir sie beschreiben, interpretieren, bewerten, welche Schlüsse wir aus diesen Beschreibungen, Interpretationen und Bewertungen ziehen und welche Theorien wir aus alledem entwickeln: Es ist immer unser Verstand, der da spricht.

Deshalb sind wir gut beraten, allen Meinungen über Gefühle mit einem Höchstmaß an Skepsis zu begegnen.

Der Geruch der Zwiebel an den Fingern

Jemand, der sein Geld damit verdient, über die Leichtgläubigkeit der Menschen zu schreiben, ohne dabei auch von seiner eigenen Naivität zu sprechen, wird sich schwertun mit dem Eingeständnis, er sei in seiner Jugend wiederholt auf Hütchenspieler hereingefallen.

Wie wär’s mit Ehrlichkeit?

Wieder und wieder wird Günter Grass die gleiche Frage gestellt, und inzwischen kann er sie nicht mehr hören. Jetzt ist er auf Lesereise in den USA, und natürlich will man auch dort wissen, warum er so lange gewartet hat mit seinem Coming-out. Und wieder fällt ihm nichts Besseres ein als die einstudierten, wenig überzeugenden Ausflüchte statt entwaffnender Ehrlichkeit.Grass charakterisiert die insistierende Fragerei inzwischen larmoyant als »Lust am Niedermachen«, ohne sich darüber klarzuwerden, daß es an ihm selbst liegt, alle Fragerei dadurch zu beenden, daß er endlich eine ehrliche Antwort gibt.

2007

 

 

Über Weltbilder

Die Bücher, die wir lesen, die Predigten, die wir hören, sind voller Weltbilder anderer Leute. Wir können uns eines dieser stabilen Bilder mit Wahrheitsanspruch aussuchen, das zu uns und unseren Vorannahmen, unseren Vorurteilen und Interessen paßt, und wenn es nicht mehr paßt, weil wir aus ihm wie aus einem Anzug herausgewachsen sind oder unsere Interessen sich verändert haben, können wir nach einem neuen Ausschau halten. Das ist ziemlich einfach.

Wir können aber auch versuchen, nach innen und nach außen zu schauen und über alles, was wir wahrnehmen, immer wieder neu nachzudenken und ein eigenes Bild von der Welt zu entwickeln, das lebendig ist und voller Irrtümer und sich mit unserem Sehen und Denken ständig weiterentwickelt. Das ist viel mühsamer. 

In Größenordnungen

Irgendwann in den achtziger Jahren hat sich ein vermutlich einflußreicher bürokratischer Einfallspinsel in der ehemaligen DDR als Stellvertreterin für das unprätentiöse und für den anspruchsvollen Bürokratenwortschatz zu simple Wörtchen groß die Wendung in Größenordnungen ausgedacht, und in der Folge gab es kaum noch eine Rede, kaum ein politisches Statement ohne diese sinnleere Floskel. Man weiß ja aus bitterer Erfahrung, daß der größte Stuß sich schneller verbreitet als die Vogelgrippe.

Zwanzig Jahre später. Die Oberbürgermeisterin der Stadt Halle (nicht in Westfalen, sondern an der Saale) läßt (ungeschnitten) Folgendes verlauten:

Die Zeiten, in denen die öffentliche Hand immer neue Dinge in Größenordnungen dauerhaft finanziert hat, sind vorbei. Wir müssen Prioritäten setzen, um auf der anderen Seite (was immer das sein mag) die Grundversorgung zu sichern.

Sie können mir glauben: Wir können uns angenehmere Dinge vorstellen, als gegenüber den Mitarbeitern zu vertreten, dass sie die nächsten 3 Jahre verkürzt arbeiten gehen müssen, und dies ohne Lohnausgleich, obwohl in einigen Bereichen berechtigte Überstunden in Größenordnungen anfallen.

(Berechtigte Überstunden in Größenordnungen sind auch nicht schlecht. Oder sind vielleicht Überstunden in berechtigten Größenordnungen gemeint?)

Vielleicht auf Völkerwanderung zurückzuführen, finden sich zunehmend ähnliche Aussagen in den alten Bundesländern, denen es an eigenem ungenießbarem Bürokratensenf auch ohne diese Neuerwerbung nicht mangelt:

Sicher gibt es noch andere Industrien, neben der Abfall- und Kreislaufwirtschaft, die Transporte in Größenordnungen durchführt, die eine Optimierung sinnvoll erscheinen lässt (Uni Stuttgart).

(Abgesehen davon, daß es natürlich durchführen und lassen heißen muß, auch hier die ungeschminkten Größenordnungen.)

Bei der VWA studieren heißt, zwei Herausforderungen gleichzeitig anzunehmen: Man muss über mindestens drei Jahre in Größenordnungen Freizeit opfern … (Verwaltungsakademie Göttingen).

Vielleicht sollten derartige Denk-Wort-Künstler mal ein wenig Freizeit opfern, um ihrer Muttersprache etwas näherzukommen oder auch nur klarem Denken. Denn was heißt »in Größenordnungen«? Sind das kleine oder große Größenordnungen, mißt man in Prozent oder in Millimeter? 

Wie groß ist der Verlust eines Betriebes, der Verluste in Größenordnungen macht? Das können wir doch nur erfahren, wenn wir wissen, daß es sich um Größenordnungen von 20 Prozent oder Millionen Euro handelt. 

Von Größenordnungen zu sprechen, ohne diese genauer zu benennen, ist unsinnig, es ist so, als wenn ich sagte: Wer das ungleiche Wortpärchen in Größenordnungen in der beschriebenen Weise benutzt, dessen Sprachgefühl ist in Größenordnungen verkümmert und dessen Denkfähigkeit ist in Größenordnungen gestört. Deshalb präzisiere ich: in erschreckenden Größenordnungen.

Aber vielleicht bin ich auch nur in (…) Größenordnungen anspruchsvoll.

Versicherung leistet

Wo man auch hinschaut, hinhört, überall hört man: „Die Versicherung leistet.“ Oder richtiger: Sie leistet nicht. Was die Versicherung leistet, darum scheint es dem Sprachökonomen merkwürdigerweise nicht zu gehen. „WANN leistet die Versicherung?“ Mich interessiert vor allem, WAS die Versicherung leistet. Wenn sie nur Seelsorge oder anderweitige ideelle Unterstützung leistet, dann sollte man sich die Versicherung sparen. 

Ich leiste, du leistest, er/sie/es leistet, wir leisten, ihr leistet, sie leisten. Ja, was leisten sie denn, die Versicherungen? Na, Göld, würde der Wiener sagen, des versteht sich doch von sölbst. 

Aber nur, wenn ’s zahlen.